Studieren in Bologna-Zeiten
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Die Bologna-Krise will nicht enden: Mal sind es die Dozenten, die über die Straffung der Lehrinhalte klagen, mal kritisieren Parteien und Verbände die schlechte Umsetzung der Reformen, dann wieder sind es die Studierenden selbst, die dem Thema mit deutlichen Protesten und Hörsaalbesetzungen mediale Aufmerksamkeit verschaffen. Und nun sind es die Statistiker des Hochschul-Informations-Systems in Deutschland (HIS), die ernüchternde Zahlen zu den Problemen beim Bachelor-Studium vorlegen.
Von: Alice Werner
Geschimpft wurde auf die Uni eigentlich schon immer. Am lautesten vielleicht von jenen Deserteuren, die ihr Studium leichten Herzens sausen liessen. Einer, der bereits nach den ersten Studienmonaten genug von der Wissenschaft hatte, war Gustave Flaubert. 1842 schrieb er in einem Brief: «Die Rechtswissenschaften bringen mich um, verblöden und lähmen mich. (…) Wenn ich drei Stunden meine Nase in das Gesetzbuch gesteckt habe, ist es mir unmöglich noch weiter fortzufahren: Ich würde sonst Selbstmord begehen.» Auch andere prominente Studienabbrecher lassen kein gutes Haar am universitären Betrieb. In seinem Buch „Über die Müdigkeit“ zieht Peter Handke über sein Studium in Graz her: «Es war in der Regel weniger die schlechte Luft und das Zusammengezwängtsein der Studentenhunderte als die Nichtteilnahme der Vortragenden an dem Stoff, der doch der ihre sein sollte. Nie wieder habe ich von der Sache so unbeseelte Menschen erlebt wie jene Professoren und Dozenten der Universität (…).» Selbst Bill Gates liess einmal verlauten, er habe sein Mathematikstudium an der Harvard-Universität aufgegeben, weil das ernsthafte Streben nach einem Abschluss unter seinen Kommilitonen als «uncool» galt. Solche Argumente spielen bei den heutigen Studienabbrechern keine Rolle mehr. Ihre Gründe für die Aufgabe des Studiums sind wesentlich ernsthafter. In ihrer aktuellen Studie zeigen die HIS-Experten auf, dass vor allem Leistungsprobleme und mangelnde Motivation für den Abbruch eines Bachelor-Studiums verantwortlich sind.
Leistungsdruck für Studierende
Im Studienjahr 2008 hatten die Forscher um Projektleiter Dr. Ulrich Heublein 2‘500 Studienabbrecher an 54 Universitätenund 33 Fachhochschulen in Deutschland zu den Hintergründen ihrer Entscheidung befragt und die Antworten mit Angaben aus dem Jahr 2000 verglichen. Die Ergebnisse stützen die Bologna-Kritiker, die den Bachelor als verschult und zweckorientiert verunglimpfen. So sind der neuen Untersuchung zufolge 31 Prozent der Studienabbrecher aus Gründen der Überforderung gescheitert. Dies ist ein Anstieg von elf Prozentpunkten im Vergleich zum Studienjahr 2000. Auch mangelnde Studienmotivation (18 Prozent) und Unzufriedenheit mit den Studienbedingungen (12 Prozent) wurden 2008 häufiger als Gründe für einen Studienabbruch genannt als acht Jahre zuvor.
Eine entsprechende Untersuchung für die Schweizer Hochschullandschaft steht bislang noch aus. Allerdings geben Auskünfte von Studienbetreuern und Fachpsychologen der Universitäten Zürich, Bern, Basel und St. Gallen erste Hinweise darauf, dass sich die Situation hierzulande ähnlich verhält. «Wir erheben diesbezüglich keine statistischen Daten», erläutert Dr. Sandro Vicini, Leiter der Beratungsstelle der Berner Hochschulen, «aber unser klinischer Eindruck ist tatsächlich, dass die Belastung der Studierenden seit Einführung der Bologna-Reform deutlich zugenommen hat.» Zu Stress führe vor allem die Tatsache, dass ein Bachelor-Studiengang Vollzeitanwesenheit erfordere – ein grosses Problem für Studierende, die neben dem Lernen noch Geld verdienen müssten. «Die Doppelbelastung Studium und Nebenjob ist für viele kaum zu bewältigen.»
Die Arbeit ballt sich
Auch Dr. Michaela Esslen, Studienkoordinatorin am Psychologischen Institut der Uni Zürich, stellt fest, dass Bachelor-Studenten häufig an ihre Grenzen stossen: «Der sogenannte Workload, also die Arbeitszeit, die Studierende zur Bearbeitung eines Moduls aufwenden müssen, ist nicht gleichmässig über das ganze Semester verteilt, sondern ballt sich gegen Ende der Vorlesungszeit – denn jedes Modul muss im Bologna-System mit einem Leistungsausweis abgeschlossen werden. Wenn mehrere Prüfungen anstehen, bringt das viele Studierende in Stresssituationen.» Im Frühjahrssemester 2009 führte Esslen eine repräsentative Studienbefragung zum Bachelor-Studium durch. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass der Druck, sein Studium in der Regelstudienzeit abzuschliessen, tatsächlich gestiegen ist. «Während die meisten der Liz-Studierenden sechs bis sieben Jahre bis zum Studienabschluss brauchten, versuchen fast alle Bachelor-Studierende, die Regelstudienzeit von drei Jahren einzuhalten – obwohl es auch im Bologna-System allen offensteht, teilzeitlich und dafür etwas länger zu studieren», sagt Esslen. «Aber offenbar stehen Studierende, die die Regelstudienzeit überschreiten, unter einem grösseren Rechtfertigungsdruck als früher.»
Als Folge dieser dauernden Leistungsforderung tritt nicht selten das ein, was im Fachjargon «studienbezogene Lern- und Arbeitsstörung» heisst. Diese stressbedingten Störungen äussern sich beispielsweise in Problemen mit Zeitplanung und Arbeitsorganisation, Konzentrationsschwierigkeiten, Unsicherheiten bei der Präsentation von Arbeitsergebnissen, Ängsten, den vermuteten wissenschaftlichen Standards nicht zu genügen, oder fehlender Arbeitsmotivation. Die Hochschulforscherinnen Karin Schleider und Marion Güntert von der Pädagogischen Hochschule Freiburg warnen in der aktuellen Ausgabe der «Beiträge zur Hochschulforschung» davor, solche Lernhemmungen zu unterschätzen. Im schlimmsten Fall könnten längere Arbeitsblockaden zu einem Abbruch des Studiums führen.
Natürliche Selektion
Tatsächlich zeigen die Ergebnisse der HIS-Forscher in Deutschland, dass Bachelor-Studierende wesentlich eher ihr Studium an den Nagel hängen (im Durchschnitt nach 2,3 Fachsemestern), als es früher der Fall war. Vor Einführung der Bologna-Reform verliessen die Studienabbrecher erst nach durchschnittlich 7,3 Fachsemestern die Hochschule. Heisst das nun, dass sensible Gemüter und Selbstfinanzierer zwangsläufig auf der Strecke bleiben? Projektleiter Heublein wählt die Worte mit Bedacht: «Im Bachelor Studium scheitern offensichtlich mehr jener Studierenden bereits beim Studieneinstieg, denen es in den bisherigen Diplom- oder Magisterstudiengängen gelungen ist, nach einer längeren Einstiegsphase doch noch im Studium Fuss zu fassen.»
Studieren in Bologna-Zeiten: Wichtiger denn je scheint jetzt zu sein, mit realistischen Erwartungen das Studium zu beginnen, seine Kapazitäten richtig einzuschätzen – und, wenn nötig, rechtzeitig die Notbremse zu ziehen. Ob es sich um Probleme mit der Selbstorganisation, Motivations- oder Konzentrationsmangel handelt – professionelle Hilfe finden Studierende in jedem Fall bei den Psychologischen Beratungsstellen ihrer Universität. In Einzelgesprächen oder Gruppencoachings bieten die Betreuer fachliche Beratung, psychologische Unterstützung und Begleitung in schwierigen Prüfungsphasen an. In Trainingskursen und Workshops können Studierende zudem lernen, ihr Zeit- und Selbstmanagement zu verbessern und Arbeitsstörungen selbstständig zu überwinden. Denn auch wenn es ein Leben nach der Uni gibt und Studienabbrecher heute längst nicht mehr als verkrachte Existenzen gelten – von den Nebenwirkungen einer umstrittenen Reform sollte man sich nicht um den Hochschulabschluss bringen lassen.
Der Artikel erschien im "SCROGGIN-career" Ausgabe Nummer 6 -2010. Link zu anderen Stories |
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